Humorvoll kommentiert: Fast alle Jahre wieder…

eine Glosse von Komalé Akakpo (07.12.2021)

Diese Pandemie hat vorher Undenkbares Wirklichkeit werden lassen. Das geht so weit, dass wir plötzlich Dinge vermissen, auf die wir früher auch gut hätten verzichten können. Besonders deutlich wird das wieder im Advent: Konnte man im letzten Jahr den erstmaligen Ausfall von Engagements zur Weihnachtszeit noch als willkommene Gelegenheit zum Durchatmen verschmerzen und den Lockdown zwar mit klammen Kassen, aber migränefrei mit Rest-Deutschland aussitzen, kommt in diesem Jahr doch Wehmut auf. Ach, was war sie doch schön, diese irrsinnig-besinnliche, absurd-adventliche Zeit...

Komalé Akakpo

Hackbrett lernen – 20 Fragen an Komalé Akakpo

Komalé Akakpo spielt seit seinem 14. Lebensjahr Hackbrett. Er ist seit 2011 Musiklehrer, freischaffender Musiker, Komponist und Verleger...

Come on and ride the Bethlehem Rallye …

Diese Zeit und ihre Tücken, von denen hier die Rede ist, ist für Außenstehende nur schwer zu erklären. In Musikerkreisen heißt sie „Bethlehem Rallye“. Der Begriff beschreibt die Unmöglichkeit, zwischen täglich bis zu acht Weihnachtsfeiern, davon bisweilen auch zwei zur gleichen Uhrzeit, hin- und herzuhetzen, um, äußerlich völlige Ruhe und vorfestliche Heiterkeit ausstrahlend, für die emotionale Bescherung der mehr oder weniger freiwillig Anwesenden zu sorgen.

Es ist dies die bittersüße Qual des Musikerlebens, denn viele unseres Berufsstandes kommen ohne sie nicht aus. Sind Weihnachtsmucken doch oft wie der Nussvorrat der Eichhörnchen: Wer hier fleißig sammelt, kommt gut durch den Winter. Weitere Gelegenheiten, um Geld zu verdienen, sind in den Monaten danach oft rar.

Mal nichts Neues diesen Winter

Obwohl die Bethlehem Rallye für viele Musiker also ein Muss ist, findet eine entsprechende Vorbereitung darauf an den Musikhochschulen nicht statt. Wie viele von uns hätten sich mit Freuden einer Ausbildung im Baufachhandel gewidmet, wenn ihnen vorher klar gemacht worden wäre, dass sie rund zehn Prozent des Jahres ausschließlich aus den hinteren Seiten von Instrumentalschulen für Sechs- bis Zehnjährige würden musizieren müssen?

Doch die größte Gemeinheit ist nicht das Repertoire, sondern die Tatsache, dass bei Weihnachtsfeiern die klare Trennung zwischen Künstler und Publikum aufgehoben ist.

Das ist auch bei Vereinbarung des Auftritts erst einmal nicht ersichtlich. Da freut man sich über die kulturell aufgeschlossene Geschäftsleitung eines metallverarbeitenden mittelständischen Unternehmens, die ihrer Belegschaft zu diesem besonderen Anlass mehr bieten möchte als stumpfe Konservenmusik. Man beglückwünscht den Vorstand des Kleintierzüchtervereins, dieses Jahr einmal keine Kosten und Mühen gescheut und Profis statt der traditionell aufspielenden „333er Stubenmusi“ (die Zahl ergibt sich aus dem Alter der vier Mitspielenden) engagiert zu haben (wer weiß, ob die grassierende Magenverstimmung nach der letzten Feier wirklich ausschließlich auf zu viele Bittermandeln in den Plätzchen zurückzuführen war …?).

„Wo stellen wir Sie denn jetzt hin?“

Die Ernüchterung folgt spätestens beim Betreten der Örtlichkeit. Im Konzept von größeren Eventlocations beispielsweise ist bei aller unterstellter Gefühlskälte immer wieder auch handgemachte Qualitätsmusik vorgesehen. Beflissene Mitarbeiter aus dem Management des sogenannten Galerienshoppings (fachlich korrekt als Head of Weihnachtstamtam oder Chief Lametta Officer bezeichnet) stehen schon in der Tiefgarage mit einem Palettenwagen bereit, um die eintreffenden Musiker samt Instrumenten auf selbigem durch den Konsumkreuzer zu rollen. Das Ende der Fahrt ist absehbar: Das Winter Wonderland mit übergroßen Plüschtieren, einer Armada von blinkenden LEDs, Kunstschnee, Kunsteis und Kunstschlitten samt Weihnachtsmann-Schaufensterpuppe.

Dem Weihnachtsmann so nah …

Accept it or not: Im Einzelhandel werden lebende Musiker der allgemeinen Dekoration zugerechnet und von der Kundschaft auch so behandelt: Das reicht von Selfies mit den lieben Kleinen („Justin, nicht das Instrument von dem Mann anfassen, vielleicht war das teuer!“) über Statistenrollen in TikTok-Videos bis hin zu Duetten mit älteren Damen, die mit beringten Fingern IHREN ganz persönlichen Rhythmus von „Fröhliche Weihnacht überall“ auf dem Metallgeländer der Galerie mitklimpern.

Das alles selbstverständlich, während man versucht, live und unverstärkt („Wir wünschen uns dezente Musik im Hintergrund, die Leute sollen ganz entspannt einkaufen gehen können. Man wird Euch schon hören, macht Euch da mal keine Sorgen!“) gegen Werbung, Suchdurchsagen und Musik aus den Lautsprechern anzuspielen. „Oh, ich muss mal schauen, wo ich das abstellen kann“, ist meist der letzte Satz vor Verschwinden des Christmas Managers.

Mitgefühl und weihnachtliche Solidarität keimen in solchen Momenten für die Menschen auf, denen es den Rest des Jahres ganz ähnlich ergeht: Den Wachen am Buckingham Palace zum Beispiel, oder den lebensgroßen Micky-Mäusen in Disneyland.

Mittendrin statt nur dabei

Die Frage „Wo stellen wir Sie denn jetzt hin?“ eines ratlos wirkenden Mitarbeiters begegnet einem noch an ganz anderen Örtlichkeiten. Schließlich kommt bei Weihnachtsfeiern in Anlehnung an die Enge des Stalls zu Bethlehem vor allem dann eine besonders heimelige Stimmung auf, wenn sich die Raumgröße zur Anzahl der Feiernden so verhält wie eine Slim Fit Jeans zu Obelix' Beinpartie. Schon die Abmessungen einer einzelnen Gitarre verblüfft in diesem Rahmen immer wieder.

Die Lösung des Problems: Kuscheln. Der schmale Kellnerlaufsteg wird kurzerhand zur Sackgasse erklärt, Speisen und Getränke den Rest des Abends über die Köpfe der Musiker hinweg gereicht und man selbst findet sich plötzlich inmitten der Belegschaft wieder – an zwei Tischen gleichzeitig sitzend, links Buchhaltung, rechts Marketing. „Angenehm, ich bin von der Musik. Und wenn Sie bitte Ihren Hut von meinem Gitarrenhals nehmen könnten ...“

Von fremden Menschen und Berufen

Doch, es gibt tatsächlich eine positive Seite an dieser ausweglosen Situation, zumindest, wenn man ein gewisses soziologisches Interesse mitbringt: Nur auf diese Weise ist man als Außenstehender schlagartig in eine vorher fremde Welt integriert und erfährt ohne geringstes investigatives Bemühen Firmengeheimnisse und Gossip unter der Gürtellinie. Tja Wallraff, hätt'ste mal Harfe gelernt …

Investments in Start-ups, das Abreißen alter Häuser, die Urlaubsziele von Kindern diverser Unternehmensvorstände, das alles ist mir nicht mehr fremd. Ich könnte sogar als Kriseninterventionshelfer arbeiten, wenn sich hungrige Senioren im Kampf um Christstollenteller gegenseitig an die Gurgel wollen.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Musik

Natürlich hat das alles auch seinen Preis: Während sich die anderen Gäste ein beliebiges Maß an Gedächtnislücken antrinken, bleibt der musikalische Dienstleister zwangsläufig auf dem Trockenen: Erstens steht die Weiterfahrt zur nächsten Feier an, zweitens besteht das Gebot der Nüchternheit, da am folgenden Abend wieder ein Musikschulvorspiel droht und die hundertfache Intonation von „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ für drei Keyboards mit Kater definitiv nicht zu ertragen ist.

Dafür erfreut man sich gern an den kulinarischen Köstlichkeiten, die trockene Schokolebkuchen und Kinderpunsch aus der Musikschule vergessen lassen. Smoker, fancy Fingerfood, flambierende Showköche: Am Essen soll es bei Weihnachtsfeiern nicht mangeln! Für ökonomisch denkende Musiker ist die dringende Regel zu beachten, vom Buffet zum späteren Verzehr mitgenommene Speisen im Koffer immer AUF und nicht UNTER das Instrument zu legen.

„Eine Krawatte ...“

Spätestens bei den Naturaliengaben hört der kulinarische Spaß aber wieder auf. Plätzchentüten scheinen in Deutschland gesetzlich vorgeschriebenes Befestigungsmaterial für bar ausgezahlte Gagen zu sein, und mit jeder weiteren Tüte steigt der Brechreiz. Wer das alles essen soll? Tapfere alleinstehende Kollegen berichten davon, dass der Vorrat sich – vor Verzehr in Wasser aufgeweicht – bis September des Folgejahres erstreckte.

Kurz vor der erlösenden Geldübergabe ist noch einmal Leidensfähigkeit gefragt. Mit dem steigenden Alkoholpegel der Anwesenden ist man für die meisten endgültig als fester Mitarbeiter der Firma akzeptiert. Feixend bekommt man an den Pissoirs die Fotos des delirösen Kollegen präsentiert, die am Montag im Intranet die Runde machen sollen. Bisweilen fügt man sich den Gesprächen, denn weiterspielen wäre jetzt auch nicht besser.


Noten für die Bethlehem Rallye

„Könnt ihr auch AC/DC?“

Das Pulver für Aufmerksamkeit ist ohnehin schnell verschossen. Nach „Stille Nacht“ auf Vereinsfeiern und „Rudolph the Red Nosed Reindeer“ bei Firmenfeiern sind alle Anwesenden der Meinung, dass sie zwar kaum etwas von der Musik gehört hätten, da die anderen – welche Schande aber auch – so laut gewesen seien, dies aber der absolut stimmungsvollste Weihnachtsfeiermoment aller Zeiten gewesen sei.

Während smarte Junior Assistants die unausweichliche Frage stellen, ob man denn auch AC/DC oder „Atemlos“ zum Besten geben könne, sorgt ‚Der Blaue‘ für den krönenden Abschluss. ‚Der Blaue‘ ist immer ein Mann um die 50. Immer ist er Ingenieur oder im Vertrieb tätig. Und er trägt immer ein blaues Hemd. Um Haltung bemüht schwankt er zwischen den mittlerweile halbleeren Tischen hindurch und passt zielsicher den Beginn eines neuen Musikstücks ab. Dann stellt er sich neben den Musiker mit der schwierigsten Partie und beginnt mit glasigem Blick ein ausführliches Gespräch über Musiksozialisation, Repertoire und die Frage, ob eine Posaune nun eigentlich das Ding mit den Klappen oder mit den Windungen ist. Wer wie ich ein Instrument spielt, das leicht mit einem Stehtisch verwechselt werden kann, ist zudem damit beschäftigt zu verhindern, dass ‚Der Blaue‘ sein Weinglas auf den Saiten abstellt oder aufgrund von Aussetzern des Gleichgewichtssinns an Musiker oder Instrument Halt sucht.

Ich bin wieder dabei

So stand man bisher jedes Jahr am 24.12. ohne Geschenke, aber am Rande eines Nervenzusammenbruchs da und fragte nach dem Warum. Und das sollen wir jetzt plötzlich vermissen? Mit gebührendem Abstand nach zwei Jahren Pandemie ist die Antwort auf diese Frage wieder aufgetaucht: In all dem Trubel finden sich doch immer wieder unerwartete, berührende Momente mit tanzenden Kindern, weinenden Senioren oder seligen Workaholics, die man auf wundersame Weise mit seiner Musik erreicht hat und die einem auch in der diesjährigen allzu stillen Adventszeit zwar nicht den Geldbeutel, aber wenigstens das Herz füllen. Freuen wir uns auf die Bethlehem Rallye 2022!

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