Anton Bruckner (1824 – 1896)

Um Mitternacht

1. Fassung

A. Bruckner: Um Mitternacht, GesMchKlav (Part.) (0)A. Bruckner: Um Mitternacht, GesMchKlav (Part.) (1)
für:
Solostimme (Alt), Männerchor (TTBB), Klavier
Ausgabe:
Partitur
Artikelnr.:
124270
Autor / Komponist:
Text:
Herausgeber:
Sprachen:
deutsch, englisch
Umfang:
8 Seiten; 22,5 × 30,5 cm
Entstehungsjahr:
1864
Verlag / Hersteller:
Hersteller-Nr.:
UE 3292
ISBN:
9783702412869
ISMN:
9790008028496
UPC:
0803452010364

Beschreibung

Mahlers Lieder nach Texten von Friedrich Rückert (1788 –1866) bilden keinen Zyklus. Das verknüpfende Band ist nur derselbe Dichter, Mahler selbst führte sie in unterschiedlicher Auswahl und wechselnder Reihenfolge auf, auch durchmischt mit Wunderhorn-Liedern. Soweit heute rekonstruierbar, sind sie zu unterschiedlichen Zeiten entstanden:

Blicke mir nicht in die Lieder ist auf der ältesten Skizze mit „14. Juni 1901” datiert, wurde demnach während der Theaterferien 1901 im Sommersitz Maiernigg am Wörthersee komponiert.

Liebst du um Schönheit, das bei Rückert den Titel Sicilianisches trägt, entstand nach Alma Mahlers Angaben entweder im August 1902 oder im Sommer 1903, ebenfalls in Maiernigg.

Um Mitternacht wurde entweder 1899 oder 1900 geschrieben; im ersten Fall wäre dies in Alt-Aussee geschehen, im zweiten entweder in Kärnten oder im Pustertal.

Ich atmet‘ einen linden Duft stammt wahrscheinlich auch aus dem Sommer 1901, als Mahler die Theaterferien zum ersten Mal in der eigenen Villa am Wörthersee verbrachte.

Ich bin der Welt abhanden gekommen schließlich ist auf der ersten Skizze in dasselbe Jahr datiert: „16. Aug. 1901”.

Alle Rückert-Lieder wurden – wie bei Mahler üblich – als Klavierlieder komponiert und erst später instrumentiert. Vier erschienen 1905 im Leipziger Verlagshaus C. F. Kahnt, das später auch die Kindertotenlieder und die Symphonie Nr. 6 publizierte, der Nachzügler Liebst du um Schönheit gelangte erst 1907 zum Druck. Dieses ist auch das einzige Rückert-Lied, das Mahler selbst ausschließlich in der Klavierfassung vorlegte. Die von Kahnt in Auftrag gegebene Orchesterfassung wurde von dem Leipziger Kapellmeister Max Puttmann (1864 –1935) angefertigt und erschien erst 1916, nach Mahlers Tod.

Die Uraufführung der vier 1905 erschienenen Lieder dirigierte Mahler selbst in einem Konzert im Brahmssaal des Wiener Musikvereins (29. Jänner 1905). Die Solisten waren Anton Moser und Friedrich Weidemann, beide Sänger aus dem Ensemble der von Mahler geleiteten Hofoper. Die Wahl des Konzertsaales ist auch für eine jetzige Interpretation nicht ohne Bedeutung, denn Mahler schrieb, seine Lieder sollten nur in einem „kleinen Saal” erklingen, da sie „im Kammermusikton gehalten” wären. In der Tat belegen die erhalten gebliebenen Aufführungsmaterialien, dass das Hofopernorchester in reduzierter Besetzung musizierte.

Im Unterschied zu Mahlers großangelegten, von schroffen Kontrasten lebenden Symphonien, auch im Unterschied zu den teilweise recht ausladenden, balladenhaften Wunderhorn-Liedern sind diese Lieder kurze, geschlossene, meist intime Charakterstücke, mit der einzigen Ausnahme von Um Mitternacht. Die Texte sind von beinahe privatem Charakter, so, als sprächen Dichter und Komponist von sich selbst: von ihrem Schaffensvorgang, vom Lindenduft im Schlafzimmer und ganz besonders von ihrer Liebe.

Liebst du um Schönheit war ganz konkret für Alma gedacht. Es ist wie eine Rechtfertigung der Beziehung „trotz” des Altersunterschiedes, der Mahler in seiner Problematik sehr wohl bewusst war, und es mag kein Zufall sein, dass Mahler das Lied nicht instrumentierte – also sozusagen nicht „für die Öffentlichkeit bestimmte” (Alma hat übrigens – vergebens – gegen die Puttmannsche Orchesterversion protestiert).

Ich bin der Welt abhanden gekommen, Mahlers wohl schönstes Liebeslied, wurde noch vor der Bekanntschaft mit Alma (die im Winter 1901 erfolgte) komponiert. Ohne der Ansicht Vorschub leisten zu wollen, jeder von Mahler geschriebene Ton habe einen biographischen Hintergrund, sei doch vermerkt, dass Mahler in der fraglichen Zeit eine intensive, aufwühlende und letztlich gescheiterte Beziehung zu der Sängerin Selma Kurz durchlebte (Frühjahr 1900). Das motivische Material dieses Liedes nimmt in Mahlers Schaffen eine zentrale Position ein und durchzieht auf anspielende Weise wie ein roter Faden jene Werke, welche die „Liebe” in den Mittelpunkt stellen, wie z. B. das bekannte Adagietto der Symphonie Nr. 5 wo es den gesamten Schlusskomplex dominiert. Das autografe Manuskript der Orchesterfassung erlitt ein bewegtes Schicksal: 1905 schenkte es Mahler seinem Freund Guido Adler (der die Wiener Musikwissenschaft begründete) zum 50. Geburtstag. Guido Adler erlitt ein böses Schicksal während der Nazizeit. Er wurde geächtet, seiner Würde(n) beraubt, seine Bibliothek verleibte sich der Nationalsozialist Erich Schenk ein, der nach dem Krieg zu hohen Ehren in der Wiener Universitätswelt gelangte. Die entwürdigenden Enteignungsverfahren wickelte ein Rechtsanwalt ab, der als Lohn das besagte Autograf des Rückert-Liedes erhielt oder behielt – so ganz genau lässt sich das nicht mehr feststellen. Als der Sohn des inzwischen Verstorbenen das kostbare Manuskript verkaufen wollte, wurde die Angelegenheit ruchbar (zuvor galt das Autograf als verschollen). Ein Erbe Guido Adlers meldete sich, eine gerichtliche Auseinandersetzung endete mit einem Vergleich. Schließlich erwarb die Kaplan Foundation (New York) die Blätter, der Erlös wurde geteilt. Als Widmung hatte Mahler auf die Titelseite geschrieben, er hoffe, der Freund Guido Adler würde ihm „nie abhanden kommen”.

Mahler ging es in den Rückert-Liedern bei der Positionierung der Musik gegenüber dem Liedtext mehr um das Etablieren einer unverwechselbaren, geschlossenen Stimmung als um allzu enge, detaillierte Wortausdeutung. Trotzdem spielen Traditionen der abendländischen Musik, die seit der Renaissance als „musikalische Rhetorik” bekannt sind, eine gewisse Rolle. So zeichnet Mahler das emsige, rastlose Treiben des Schaffenden, „der Bienen”, in Blicke mir nicht in die Lieder durch eine fortlaufende Achtelbewegung in der Begleitung, deren Figurierung in der Musikrhetorik als „Kyklosis” oder „Circulatio” bekannt ist, ein sich immanent im Kreis drehendes Gebilde. Von den anderen rhetorischen Figuren möchte ich hier nur die „Fuga” („Flucht”) zwischen der Singstimme und dem Instrumentalbass nennen, die Mahler bei den Worten „mit der ich sonst viele Zeit verdorben” in Ich bin der Welt abhanden gekommen anwendet: Der Verlust von Zeit wird durch die zeitliche Versetzung des Gleichen verdinglicht, es heißt ja auch „tempus fugit” („die Zeit entflieht”). Die Musik zu Ich atmet’ einen linden Duft lehnt sich dagegen sowohl mit ihrem pentatonischen Tonmaterial als auch durch die spezielle Klangwelt (Harfe, Celesta) an fernöstliche Musik an, wie man sie um 1900 eben kannte. Ihre relative Statik und das Wortspiel von „linden Duft” und „Lindenduft” lässt durchaus an ein Haiku denken (und natürlich an Das Lied von der Erde).

Aus dem Rahmen fällt Um Mitternacht. Der Anfang erinnert an vertraute nächtliche Stimmungsbilder, wie etwa an den 1895 entstandenen 4. Satz der Symphonie Nr. 3, das Lied O Mensch! Gib acht! auf einen Text von Friedrich Nietzsche. Von bestimmender Bedeutung sind die alles durchziehenden, abwärts führenden Tonleitern (rhetorisch: „Katabasis”). Dann aber kommt es zu einem auffälligen Ausbruch im Orchester, der Text wird religiös, die Musik für viele Kommentatoren (z. B. für Theodor W. Adorno) zu einem konfirmativen Ärgernis. Mahler und das Christentum ist ein eigenes Thema. Am 23. Februar 1897 konvertierte Mahler in Hamburg zum Katholizismus, sicher auch in Hinblick auf die angestrebte Stellung an der Wiener Hofoper. Sein Interesse an christlichen Themen ging aber über opportunistisches Akzeptieren sicher weit hinaus. Schon die Symphonie Nr. 2 – lange davor – führte in den Sätzen 4 und 5 in die Welt christlicher Vorstellungen, in der Symphonie Nr. 3 ist es vor allem der 5. Satz („Es sungen drei Engel”). Der Schlusssatz der Symphonie Nr. 4 („Das himmlische Leben”) passt hier genauso hinein wie der gewaltige erste Teil der Symphonie Nr. 8 („Veni Creator Spiritus”). In diesem Zusammenhang muss Um Mitternacht gesehen werden. Mahler stellt eben nicht nur quälende Fragen und schildert katastrophale Zusammenbrüche, sondern er ist auch Komponist von zartester Lyrik, von blühenden Utopien und von Hoffnungen, die von seinem starkem Willen getragen werden.

Reinhold Kubik

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