Nina Simone: Did I make you cry?

von Rudie Kagie

En vogue: Die Popularität von Nina Simone scheint nachträglich fast größer als zu ihren Lebzeiten. Wobei der Sängerin Jahre in den Niederlanden eher schwach ausgeleuchtet sind. Das holen wir nach.

Erschienen im Magazin „Jazz Podium“, Ausgabe 8-9/2022.

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„Ich glaube, die fünf Jahre, die sie in den Niederlanden lebte, waren die glücklichste Zeit ihres Lebens“, sagt Gerrit de Bruin, pensionierter Weinhändler, Jahrgang 1945, und ein begeisterter Geschichtenerzähler, der keine Fragen braucht, um Details über seine langjährige Freundschaft mit Nina Simone preiszugeben. Er sitzt vor knisterndem Kaminfeuer in seinem Deichhaus in Warns in der niederländischen Provinz Friesland und nippt an einem Glas Merlot. „Nina ist heute viel berühmter als vor zwanzig Jahren“, sagt de Bruin, der mehrfach in Dokumentationen über Simone zu sehen war. Simones Werk wurde in den letzten Dekaden zunehmend von einer neuen Generation entdeckt. Die digitale Wiederverwertung sowohl ihrer offiziellen Diskografie als auch der Bootlegs ufert aus. Ihre Alben werden konstant auf Vinyl wiederveröffentlicht, ihre Musik wird ins Heute weitergedacht, wie im Februar 2022 auf der Doppel-CD „Feeling Good“, wo Remixe neben Originalsongs standen.

Den endgültigen Schub für die Simone-Verehrung gaben ursprünglich die Netflix-Dokumentation „What Happened, Miss Simone?“ von 2015 sowie das gleichnamige Buch, das Alan Light auf der Grundlage des Films geschrieben hat. Simones Geburtshaus in 30 East Livingston in dem 1600 Seelen-Dorf Tryon, North Carolina, wurde kürzlich von Fans ihrer Musik gekauft und soll ein Nina Simone-Museum werden. Im Dorf gibt es bereits einen Nina Simone-Platz, auf dem eine Bronzeskulptur der Sängerin an einer schwebenden Klaviertastatur steht. Soweit de Bruin weiß, sind noch ein halbes Dutzend Kinoproduktionen in der Pipeline, darunter ein umstrittener Spielfilm, den die Erben am liebsten verhindern würden.

Statue von Nina Simone in Tryon, North Carolina, Foto von Tim Duncan (2018) / CC 4.0

Wie bei vielen afroamerikanischen Sängerinnen ihrer Generation reifte Simones Gesangstalent in einem Kirchenchor. Am Klavier entpuppte sie sich gleich als Wunderkind. Im Alter von zehn Jahren, geboren wurde sie 1933, beindruckte sie bei ihrem Debüt als Solistin in Tryon mit ihrer Interpretation der Klaviersonaten von Schubert und Mozart. Da hieß sie noch Eunice Kathleen Waymon.

Es war ein Debüt, bei dem ihre Eltern nicht in der ersten Reihe des Konzertsaals sitzen durften. Die war für Weiße reserviert. Dieses Ereignis habe bleibende Spuren in ihrer Seele hinterlassen, sagte Simone Jahre später – Spuren, die ihr zukünftiges lebenslanges Engagement für die Bürgerrechtsbewegung erklären.

Ab dem Sommer 1954 lebte sie als Nina Simone – ein Alter Ego, das sie aus Scham über die bescheidene Nebenrolle, die ihr als Pianistin in einer Nische einer lauten Bar in Atlantic City zugedacht war, selbst gewählt hatte. Davor, mit siebzehn Jahren, zog sie mit ihren Eltern nach Philadelphia, wo sie sich mit Klavierunterricht und Klavierbegleitung durchschlug. Ein Jahr lang studierte sie an der Juilliard School of Music in New York unter Carl Friedberg Klavier. Dafür sorgte ihre Klavierlehrerin Lawrence Mezzanovich, die ihr Talent erkannte, sie teilweise umsonst unterrichtete und zu ihrer Unterstützung den „Eunice Waymon Fund“ einrichtete. Das renommierte Curtis Institute in Philadelphia nahm sie nicht auf. Als Grund für ihre Ablehnung führte Simone Rassismus an.

Der internationale Durchbruch gelang Simone 1959 mit ihrer Darbietung von „I Loves You, Porgy“ von George Gershwin. In den Sechzigerjahren glänzte sie dann mit einer Reihe von Protestsongs, Liedern wie „To Be Young, Gifted and Black“, „Mississippi Goddamm“ und „I Wish I Knew How It Would Feel to Be Free“. Zu der Zeit war ihr Traum von der ersten afroamerikanischen Pianistin im Klassikbereich ausgeträumt. Beim Improvisieren zitierte sie aber immer gern Johann Sebastian Bach und Frédéric Chopin.

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Nina Simones erster Hit: „I Loves You Porgy“ von ihrer ersten Platte „Little Girl Blue“ (1959)

Zeitlebens hatte Simone mit sich zu kämpfen. Ihre bipolaren bzw. manisch-depressiven Erkrankungen diagnostizierte man allerdings erst Anfang der Achtzigerjahre. In ihrem Tagebuch stellte sie sich allerdings schon 1966 die Frage: „Wenn jemand sechs oder sieben Persönlichkeiten hat, ist die Psychiatrie imstande, sie alle zu behandeln?“

In Interviews und in ihrer Autobiografie „I Put A Spell on You“ (1991) betonte Simone unermüdlich die „besondere Bindung“ zu den Niederlanden. Diese Bindung begann mit Willem Langenberg, dem Talentscout und Artist & Repertoire-Chef von Philips, der 1960 mit der schier unmöglichen Aufgabe betraut wurde, das kränkelnde Plattenlabel auf die internationale Landkarte zu bringen. Simone war 1963 in den USA bereits bekannt, aber die sieben Alben, die sie für das kleine, unabhängige Label Colpix aufgenommen hatte, gab es in Europa nicht zu kaufen.

Langenberg hatte Zugang zu der Aufnahme von „Mississippi Goddam“, Simones scharfer Anprangerung rassistischer Übergriffe. Sie hatte den Song in weniger als einer Stunde komponiert. Das Lied war ihre Reaktion auf die rassistisch motivierten Morde an Emmett Till und Medgar Evers in Mississippi im Jahr 1955 und den Bombenanschlag auf die 16th Street Baptist Church in Birmingham, Alabama, bei dem 1963 vier schwarze Kinder getötet wurden. Auf der Aufnahme kündigt sie den Song sarkastisch an als „eine Show-Melodie“ zu der aber „die Show noch nicht geschrieben“ sei.

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Langenberg hörte die Platte vor Veröffentlichung zu Hause in Eindhoven – 24 Stunden am Stück, nonstop, wie er später erzählte. Dann beschloss er, das erste verfügbare Flugzeug nach New York zu nehmen. Ein Taxi brachte ihn noch am selben Abend zum Klub Village Gate, wo Simone auftrat. Langenberg – über zwei Meter groß, übergewichtig und tiefstimmig, weshalb Big Willy genannt – stürmte nach dem Konzert und ohne anzuklopfen in die Garderobe der Sängerin und versprach ihr nicht weniger, als dass Philips sie zu einem Weltstar machen werde. Den Vertrag unterschrieb sie auf der Stelle.

In den folgenden drei Jahren nahm Simone sieben Alben für Philips auf. Jazz, Pop, Balladen, Klassik, Folk, Gospel – Simone beherrschte alle Genres. Als 1967 die lukrative Zusammenarbeit mit Philips ein jähes Ende fand, weil sie ein millionenschweres Geschäft mit RCA einging, bedeutete dies nicht, das Ende der Freundschaft zwischen Simone und Langenberg. Er lud sie immer wieder zu den illustren Silvesterpartys ein, die er und seine Frau für Künstlerfreunde organisierten. In ihrer Autobiografie erinnerte sich Simone an ein Gelage, bei dem Big Willy im Überschwang der Gefühle ein Auto gemeinsam mit Quincy Jones in den Pool schob. Als Simones Ehemann Andy Stroud – ein Ex-Polizist, mit dem sie eine Tochter, Lisa, geboren 1962, hatte – sie in einem niederländischen Aufnahmestudio bedrohte, griff Langenberg mit den Worten ein: „Andy, look at you, you have no deep sense of your colour – you don’t really know who you are. Nina has colour and also she has the weight of forty million people on her back. You know, you should be gentle with her.“ Nachdem ihre Ehe mit Stroud – die zweite nach jener mit dem Beat-Poeten Don Ross, 1958 bis 1960, – nach neun Jahren gescheitert war, flog Simone in Juli 1970 nach Holland, um bei Langenberg Trost zu suchen. Einen Monat später starb er jedoch.

De Bruins Leidenschaft für sein Idol geht auf das Jahr 1962 zurück, als eine Verkäuferin eines Utrechter Plattenladens ihn auf das Album „Live at the Village Gate“ aufmerksam machte: Gänsehautmusik, meinte sie. In einer der Hörkabinen, in denen die Kunden damals Platten probehörten, war der erste Song, der aus dem Kopfhörer erklang „Just in Time“. „Dieses Lied brachte mir Licht ins Dunkel“, sagt de Bruin heute. „Bis dahin hatte ich in einer musikalischen Wüste gelebt.“ Von da an kaufte er alles, was Simone rausbrachte. Persönlich lernte er sie 1967 kennen, kurz bevor sie eine nächtliche Show im Amsterdamer Concertgebouw geben sollte. Weil die bereits ausverkauft war, dachte sich de Bruin eine List aus: Er wartete darauf, dass der Kleinbus mit den Musikern vorfuhr und half fleißig mit, die Ausrüstung ins Concertgebouw zu schleppen – der Sicherheitsdienst dachte, er gehöre zum Team. De Bruin: „Als ich in den großen Saal kam, saß Nina allein hinter dem Klavier und spielte beim Soundcheck eine kleine Melodie. Ich kletterte auf die Bühne und stellte mich als ihr treuester Fan in den Niederlanden vor. Wenn es so ist, muss ich Ihnen einen Stuhl besorgen, sagte sie. Sie fragte, was sie für mich spielen solle. ‚Just in Time‘, sagte ich. Tatsächlich sparte sie sich diesen Song für das Konzert später auf. Stattdessen spielte sie zwanzig Minuten lang andere Lieder. Sie beantwortete alle meine Fragen und lud mich nach dem Konzert ins Hilton Hotel ein, wo sie und ihr Mann Andy Stroud eine Aftershowparty für Freunde gaben.“ Es wurde eine richtige Freundschaft.

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Wieder in den USA, führte die Sängerin einen intensiven Briefwechsel mit ihrem niederländischen Fan. Als sein Idol ein Jahr später ein Konzert in Amsterdam gab, da arbeitete de Bruin in einem Reisebüro, saß er in der ersten Reihe. Auch 1968 wurde ihm eine Tochter geboren. Die Eltern nannte sie Nina.

Im Dezember 1968 war de Bruin in London. Am Nachmittag vor Simones Konzert in der Royal Albert Hall traf er die Sängerin in der Lobby ihres Hotels und sie fragte ihn, welchen Song er für den wichtigsten in ihrem Repertoire hielte. Er meinte: „Dambala“.

An jenem Abend sang Simone zum ersten Mal seit 25 Jahren wieder „Dambala“ – laut de Bruin eine Geste der Freundschaft. Im Winter 1969 reiste de Bruin nach Mount Vernon im Bundesstaat New York, wo er bei Simone und Stroud wohnte. Er kehrte erst im Frühjahr 1970 in die Niederlande zurück. Der Kontakt riss kurzzeitig ab. Nach ihrer Scheidung von Stroud reiste Simone durch Europa und ließ sich in Paris nieder, wo sie zu wenige Auftritte hatte, um über die Runden zu kommen. Sie war mittellos, als sie de Bruin kurz vor Weihnachten in Nijmegen anrief. Er schickte ihr sofort ein Flugticket. Am selben Nachmittag holte er sie um 15.45 Uhr mit seinem Auto vom Amsterdamer Flughafen Schiphol ab. „Ich brachte sie nach Amsterdam, ins Hotel Americain und überlegte, wie Nina kurzfristig Geld verdienen könnte. Ich wusste, dass der Bigband-Leiter Boy Edgar ein Fan von ihr war. Anlässlich des 25-jährigen Bestehens seines Orchesters bereitete er ein Konzert vor, das am 7. Januar 1971 live im Fernsehen übertragen wurde.“ Simone trat zwar mit Bigband auf, wird es allerdings nicht bedauert haben, dass die TV-Aufnahmen anschließend gelöscht wurden, denn nach kaum zehn Minuten hatte sie unter Buh-Rufen den Konzertsaal verlassen, weil sie meinte, dass die Band es nicht brachte. Aber: Eine halbe Stunde später kehrte sie – wütend – auf die Bühne zurück und sang eine herzzerreißende Version von Billie Holidays Protestsong „Strange Fruit“, wobei sie sich am Flügel begleitete.

In der ersten Hälfte der Siebzigerjahre zog sich Simone aus dem öffentlichen Leben zurück. Nach Streitigkeiten mit Managern, Plattenfirmen und den Steuerbehörden und nach einem Aufenthalt auf Barbados von 1972 bis 1974 verließ sie die USA für immer – sie nannte den zunehmenden Rassismus als Grund ihres Abschieds. Ein Nomadendasein begann. Auf Anraten von Miriam Makeba ließ sie sich erstmal in Liberia nieder, es folgten Trinidad, Marokko, die Schweiz, England, Frankreich und die Niederlande.

„Es war Geldmangel, der sie zurück auf die Bühne trieb“, sagt de Bruin. „Auf der DVD ihres Konzerts von 1976 in Montreux sieht man eine Nina Simone, die das Klavier jahrelang nicht mehr angefasst hatte. 1978 trat sie erneut mit Boy Edgar auf. In den Achtzigerjahren spielte sie stundenlang in der Pariser Jazzbar Aux Trois Mailletz für ein paar hundert Dollar pro Abend. Auf dem Bürgersteig vor dem Palais des Glaces hielt sie Passanten an, um ihnen zu sagen, dass sie abends dort auftreten werde. Dass Nina schwer bipolar war, war auch in ihrer Musik zu hören. Sie spielte am Klavier etwa die Melodie von ‚My Father Always Promised Me‘, sang aber die Lyrics von ‚Ne me quitte pas‘. Beide Stücke konnte man unschwer wiedererkennen. Auf halbem Weg drehte sie aber die Sache um: Sie spielte plötzlich ‚Ne me quitte pas‘ und sang ‚My Father‘. Als ich die Aufnahmen Jahre später Miles Davis vorführte, bat er um repeat, denn er wusste nicht, wie sie das macht. Schließlich sagte er sich: ‚Nina, you make me break my own heart‘. Und bezeichnete sie als ‚the greatest interpreter of sadness and feelings of our times‘.“

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Nina Simones beim Montreux Jazz Festival 1976 (Medley „Stars“ und „Feelings“)

Ein Auftritt beim North Sea Jazz Festival in Den Haag endete 1983 in einem Aufruhr. Am Nachmittag warf Simone den Willkommensstrauß mit Vase aus dem Fenster. Außerdem verlangte sie statt eines Zimmers eine Doppelsuite, die sie schließlich im Promenade Hotel bezog. Das programmierte Nachtkonzert floppte. Nach knapp dreißig Minuten schlug Simone den Deckel des Flügels zu, bellte: „You are a lousy audience“ und verließ entrüstet die Bühne. Hinter den Kulissen verpasste sie Festivaldirektor Paul Acket noch eine Ohrfeige.

„Diese Dinge sind passiert“, sagt de Bruin, obwohl er bezweifelt, dass sie passiert wären, wäre er dabei gewesen. „Dies geschah zu einer Zeit, als sie sich weigerte, Medikamente zu nehmen. Einige Bhagwan-Idioten hatten ihr gesagt: ‚Frau Simone, Sie sind eine Kaiserin, es ist lächerlich, dass Sie gezwungen sind, um 2.30 Uhr morgens aufzutreten.‘“

De Bruin schätzt, dass er mindestens fünfhundert Konzerte von Simone besucht hat. Sie mochte es, wenn er ihren Auftritten nur wenige Meter vom Flügel entfernt zusah. Sobald eines ihrer Bandmitglieder ein Solo begann, nutzte sie die Gelegenheit, um hinter der Bühne ein paar Züge von einer ihr zugesteckten Zigarette zu nehmen. Wenn das Konzert wie geplant verlief, fragte sie: „Gerrit, did I make you cry?“ Und wenn er bejahte, küsste sie ihn auf die Wange und flüsterte: „I know, I felt like crying too.“ Dann lief sie eilig auf die Bühne, um die Aufführung fortzusetzen.

1988 zog Simone in eine Wohnung in der Graadt van Roggestraat in Nijmegen, direkt neben dem Belvoir Hotel und in fußläufiger Entfernung zu de Bruins Wohnadresse. Hier war sie oft am Rande des Swimmingpools anzutreffen. Ein befreundeter Psychiater verschrieb ihr Trifalon – ein Medikament, das sie wieder ins Gleichgewicht bringen sollte. De Bruin: „Es war dadurch tatsächlich möglich, ihrem Leben etwas Struktur zu geben. Solange sie ihre Tabletten nahm, konnte sie vieles tun. Sie gab acht Konzerte in den Niederlanden, nach denen sich die Nachricht verbreitete, dass sie wieder funktioniere. Ramond Gonzalez, ihr Manager aus Paris, Al Schackman, ihr Stammgitarrist, und ich bildeten das A-Team – so nannten wir uns. Wir reisten mit ihr nach Frankreich, Italien, Spanien, Israel, in die Vereinigten Staaten. In Nijmegen hatte Simone ein Fahrrad, von dem sie ein paar Mal herunterfiel, so dass sie so manches Mal mit einer Beule am Kopf Klavier spielte. Wir spazierten auch im Regen auf dem Waalban-Deich. Sie sang zu einer Kassette von Mahalia Jackson und versuchte, mir das Singen beizubringen.“

De Bruin hatte inzwischen viel mit seinem Weingeschäft zu tun. Eines Nachmittags rief ihn Simone an und sagte, er solle sofort zu ihr kommen. De Bruin: „Ich sagte ihr, dass ich nicht weg kann. Aber nein, sie bestand darauf. Also ging ich zu ihr. Sie wartete auf mich in einem wunderschönen Kleid, sorgfältig zurechtgemacht wie für ein Konzert. Sie sagte: „Ich bin dir so dankbar für alles, was du für mich tust, dass ich dir etwas zurückgeben möchte.“ Daraufhin spielte und sang sie vier Stunden lang nur für mich.“

Simone konnte aber auch anders. Wie im Foyer des Grand Hotels in Paris, wo sie aus einer Laune heraus einen Streit mit einem völlig fremden Mann begann. Als sie ihn attackieren wollte, legte de Bruin seine Arme um sie, zerrte sie hinaus und schob sie in ein Taxi. Sie fuhren solange durch die Stadt, bis sich Simone beruhigt hatte. Zurück im Hotel nahm sie einen Seiteneingang. Die Szene zuvor war ihr zu peinlich. Den Vorfall sprachen beide nicht an. Erst in Nijmegen, drei Monate später, sagte Simone zu de Bruin: „Gerrit, ich danke dir, dass du mich damals aus dem Grand Hotel rausgeholt hast.“ Ähnlich verlief der Besuch in einem japanischen Restaurant in Nijmegen Ende der Achtzigerjahre. Simone dauerte das Servieren des Hauptgerichts zu lange. Sie fing an zu schreien. Als der Besitzer an ihrem Tisch erschien und sie aufforderte, das Lokal zu verlassen, brüllte sie ihn an: „Du magst mich nicht, weil ich schwarz bin!“ Der Besitzer lächelte und sagte: „Nein, Madam, ich mag Sie nicht, weil ich gelb bin.“ Simone verließ das Restaurant in Begleitung von de Bruin. Noch Monate später würde sie amüsiert auf den Vorfall zurückblicken. In dem Restaurant aß sie allerdings nie wieder. Sie schämte sich zu sehr. Simone bemühte sich um einen niederländischen Pass. In einem Fernsehinterview 1988 appellierte sie an Königin Beatrix: „Ich bin mein ganzes Leben lang gereist und hatte nie ein Zuhause. In Amerika werde ich nicht geschätzt. In den Niederlanden werde ich es, und deshalb möchte ich eine Niederländerin werden.“ Die Tageszeitung De Gelderlander berichtete, Simone habe sich für einen Sprachkurs angemeldet.

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Nina Simone: Interview mit Mavis Nicholson 1984

Als die Provinzstadt Nijmegen Simone zu eng wurde, fand de Bruin eine gut ausgestattete Mietwohnung in Amsterdam, die Simone 1990 bezog. De Bruin: „Ich habe ihr ein kleines Auto gekauft. Sie hatte Bekannte, gab etwa fünfzig Konzerte im Jahr und führte ein gutes Leben.“ Simone schloss Freundschaft mit dem Amsterdamer Verleger Michel Vassalucci. Der nahm sie mit in den Urlaub in seine Heimat Frankreich. Simone war vom südfranzösischen Dorf Bouc-Bel-Air so angetan, dass sie beschloss, vor Ort ein Haus zu kaufen. „Ich habe sofort gesagt, dass ich das nicht für klug halte“, sagt de Bruin. „Zöge sie nach Südfrankreich, könnte ich mich nicht mehr um sie kümmern. Doch ihre Entscheidung stand fest.“

In Frankreich und außerhalb des Blickfelds ihrer treuen Begleiter ging es für Simone bergab. Sie beging Fahrerflucht nach einem Unfall, brach ein Konzert vorzeitig ab, schoss mit einer Luftpistole auf einen lärmenden Nachbarn. Am Telefon sagte sie de Bruin aber, sie fühle sich zum ersten Mal seit langem lebendig. „Nina, nimmst du deine Medizin?“, fragte er. Sie verneinte. „Ich bin sofort in ein Flugzeug gestiegen“, sagt de Bruin. In Frankreich rührte er ihr Lithium ins Essen und sie wurde ruhiger. Kurz nachdem er wieder weg war, brach in Simones Haus ein Feuer aus.

1994 besuchte sie die USA. Nachdem sie einen Anwalt mit einer Waffe bedroht hatte, wies man sie für 24 Stunden in eine psychiatrische Anstalt ein. Dort traf Simone auf den Krankenpfleger Clifford Henderson. Sie stellte ihn an, damit er sich auch in Frankreich um sie kümmere. „Dieser Junge hat es geschafft, sich wie ein böses Genie in eine Machtposition zu manövrieren“, sagt de Bruin. „Nina war früher ein Teufel, mit dem man nicht streiten sollte, aber sie wurde immer schwächer und immer bedürftiger. Henderson hat diese Situation ausgenutzt. Er verwaltete ihr Geld, trank eine Flasche Cognac am Tag und entledigte sich Ramond Gonzalez, um selbst Manager zu werden. Ich wurde nicht mehr zu Nina vorgelassen. Wenn ich anrief, hieß es immer, sie sei nicht da. Ich erfuhr aber, dass sie wegen Brustkrebs behandelt wurde. Doch erst im Krankenhaus habe ich sie ans Telefon bekommen. ‚Warum höre ich nie etwas von dir?‘, fragte sie als erstes.“

Die Krebs-Behandlung kam zu spät. De Bruin erinnert sich an ihr letzte Gespräch. Da meinte sie: „Ich habe dir schon vor zwanzig Jahren gesagt: Ich werde mit Siebzig sterben.“ Nina Simone starb am Ostermontag 2003.

Dieser Beitrag erschien im Magazin „Jazz Podium“, Ausgabe 8-9/2022.

Über den Autor:

Rudolf (Rudie) Kagie (Den Haag, 1950) ist ein niederländischer Journalist. Seinen ersten Artikel schrieb Kagie 1972 für die Wochenzeitung Vrij Nederland. Bis 1992 arbeitete er als freier Journalist, danach bis 2014 als Redakteur von Vrij Nederland. Im Mai 2016 wurde Kagie Chefredakteur des Magazins von De Kring. Er ist einer der Gründungs- und Hauptredakteure der zweiwöchentlich erscheinenden Meinungszeitung Argus, deren erste Ausgabe am 7. März 2017 erschien. Rudie Kagie hat Bücher zu verschiedenen sozialen Themen und zwei "Memoiren" veröffentlicht.

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